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Wenn Arbeit in die Armut führt

Frisieren, kassieren, liefern – fast immer abrufbar und am Ende arm: die sogenannte Working Class. Zu Beginn der Pandemie hat sie noch viel Beachtung bekommen, denn ihre Arbeit ist lebensnotwendig für unsere Gesellschaft. “Danke, dass Sie da sind für Ihre Mitbürger und buchstäblich den Laden am Laufen halten”, sagte Angela Merkel im März 2020, während große Teile des Landes daheimsaßen. Als Anerkennung für ihre Stand-by-Funktion in einer ungewissen und lebensgefährlichen Situation, schenkten wir diesen Menschen Applaus und Dankesworte – und dabei blieb es.

„Eigentlich müsste ich bis 85 arbeiten“

 “Wir haben wirklich, Entschuldigung, unseren Arsch hingehalten in der Corona-Pandemie. Wir waren ohne Masken am Anfang, wir hatten kein Desinfektionsmittel, wir hatten keinen Schutz bei den Kassen, die Kunden – nicht alle, wir haben wirklich sehr nette Kunden – aber es gibt wirklich immer wieder Menschen: Eine Kollegin ist bespuckt worden, wir sind angegriffen worden, Kolleginnen sind mit dem Einkaufswagen über den Haufen gerannt worden. Einfach, weil Ware nicht da oder ausverkauft war. Ich habe schon gesagt, mein nächstes Leben, da geh ich als Tierpflegerin, weil die Leute natürlich immer aggressiver werden, die hatten ja nichts mehr zu tun. Die Leute haben froh sein können, dass wir da waren und alles so schnell wie möglich aufgefüllt haben. Manche haben für drei gearbeitet, damit das alles passt. Es ist auf unserem Rücken ausgetragen worden,”

sagt Marion Loritz aus Nürnberg. Sie ist seit drei Jahrzehnten im Einzelhandel tätig – und hat trotzdem ihren Humor bewahrt:

“Wenn‘s nach dem Einkommen geht, dann müsste ich wahrscheinlich bis 85 arbeiten, oder am besten wäre, wir machen eine extra Abteilung auf mit Särgen, damit man die Mitarbeiter vom Arbeitsplatz direkt in den Sarg auf einem Fließband rausbefördern können”, sagt Loritz.

Marion Loritz
Marion Loritz

„Das sind keine privaten Probleme!”

Für ihr Buch “Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können”, das 2021 im Berlin Verlag erschienen ist, hat Julia Friedrichs Menschen begleitet, die einer gering entlohnten Tätigkeit nachgehen. Soziale Ungleichheit ist Friedrichs Lebensthema. Mit der Filmreihe “Ungleichland” hat sie schon Jahre vor der Pandemie gezeigt, wie ungleich verteilt Chancen in Deutschland sind. Diese, so Julia Friedrichs, hingen in Deutschland vor allem von der Geburt ab, nicht von der eigenen Anstrengung:

“Es wäre tatsächlich gut, wenn man klarer machen würde: Nein, das sind keine privaten Probleme. Das liegt auch nicht daran, dass ihr in irgendwas schlecht wart oder euch nicht genug angestrengt habt. Sondern es sind eben strukturelle Probleme,” sagt Julia Friedrichs.

Die Autorin Julia Friedrichs in Berlin | Bild: Andreas Hornoff
Die Autorin Julia Friedrichs in Berlin | Bild: Andreas Hornoff

“Ich habe gearbeitet für diesen Staat und für diese Unternehmen, und bekomme nichts.”

“So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen. Wenn wir nicht mindestens 12,50 Euro die Stunde verdienen, landen wir automatisch in der Altersarmut, da können wir gar nichts gegen machen. Und das, nachdem wir ein ganzes Leben lang gearbeitet haben. Es gibt viele Mütter, die sagen müssen: Mein Kind kann an diesem Schulausflug nicht teilnehmen, weil ich mir das nicht leisten kann. Ich brauche das Geld, das ich verdiene, für meine Fixkosten. Und da lebe ich nicht auf großem Fuß, sondern bezahle ich nur das, was wirklich nötig ist. Und dann soll ich noch für meine Rente vorsorgen. Das hört sich immer so schön an, aber das ist nicht drin, da gibt’s keine Überschüsse, die ich zurückzulegen könnte. Das heißt für mich: Ich lande, nachdem ich ein Leben lang Vollzeit gearbeitet habe, in der Altersarmut. Und das ist für mich keine Wertschätzung. Ich habe gearbeitet für diesen Staat und für diese Unternehmen, und bekomme nichts,”
sagt Susanne.

Lucie (l.) und Susanne, Verkäuferin bei H&M in Nürnberg, haben vor einigen Jahren einen Betriebsrat gegründet
Lucie (l.) und Susanne, Verkäuferin bei H&M in Nürnberg, haben vor einigen Jahren einen Betriebsrat gegründet

“Über Geld nicht zu reden, ist ein Privileg, das sich viele von uns einfach nicht leisten können”, schreibt die Autorin Sharon Dodua Otoo in ihrem Essay “Klassensprecher”, erschienen in dem Band “Klasse und Kampf” (Claassen 2021).


Hier kann man Die neue Working Class – Wenn Arbeit in die Armut führt hören, runterladen oder den Podcast abonnieren.
Die Folge lief am 18.07.2021 und am 27.12.2021 auf Bayern 2 Radio.

Darin kommen zu Wort: Friseurin Susanne Haupt, Betriebsrätin Marion Loritz bei Marktkauf in Nürnberg und die H&M-Verkäuferinnen Susanne und Lucie. Außerdem Julia Friedrichs, Autorin des Buchs “Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können” und Diana Stachowitz, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der BayernSPD-Landtagsfraktion.